Zwepo
Es geschah an einem Tag, an dem die Sonne sich nicht blicken ließ. Unheilverkündende düstere Wolken standen am Himmel, zogen wie Schlammlawinen über die Dächer des
Dorfes. Zwergkleinchen saß bei der Mutter, sah ihr beim Kochen und Backen zu und versuchte, die anfallenden Krümel aufzulesen, und sie in den Müllkorb zu tragen. «Das machst du gut,
Zwergkleinchen, bist mir eine große Hilfe!», lobte ihn die Mutter und unterhielt sich mit dem Kleinen neben der Arbeit über seine Berufswünsche. «Wenn ich mal groß bin, ich meine nach dem
Größerwerden noch größer …», begann der Winzling und die Mutter lächelte über die unbeholfene Formulierung des Sohnes, «… dann möchte ich im Kindergarten oder in der Schule arbeiten», endete er.
Seine Mutter blickte erstaunt auf und glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. «Warum das?», fragte sie ihn und ließ ihre Hände auf dem Teig ruhen, um den Sohn anzusehen. «Na, ich möchte den Kindern
etwas beibringen, was sie als Erwachsene gebrauchen können. Vielleicht denken sie auch später mal an mich, wenn ich alt und gebrechlich bin, und kommen mich besuchen?» «Das ist eine einleuchtende
Begründung. Aber weißt du auch, dass dieser Beruf nicht so leicht ist? Es gibt Kinder, die viel Liebe und Anleitung brauchen, zum Beispiel die aus den ärmeren Familien oder gerade jene, deren
Eltern nie zu Hause sind und nie Zeit für ihre Kinder haben. Viele Kinder sind auch nicht immer dankbar», räumte die Mutter ein. «Aber Mama, jeder Beruf ist schwer! Und ich möchte das eben
machen, weil ich glaube, dass ich etwas Gutes tu!» Zwergkleinchens Argumente waren schlicht. Seltsam, die Mutter dachte nicht daran, es ihm auszureden. Warum nicht? Er war schon jetzt klug und er
hatte etwas Außergewöhnliches. Er sorgte sich um andere. Er dachte daran, was sie fühlen könnten. Er verletzte nie andere Zwerge, nur, weil es ihm gerade gefiel. Vielleicht war er deshalb
Großvaters Liebling? Sie knetete den Teig weiter, formte kleine Kugel und legte sie aufs Blech. Zwergkleinchen lief das Wasser im Munde zusammen, als es an der Tür schellte.
«Oh! Wer mag das jetzt sein, um diese Zeit?», fragte Mutter mehr sich selbst als den Kleinen. Der hüpfte zum Fenstersims, um nach draußen zu spähen. «Mama, Mama, da
ist …» Er sprach nicht weiter, sah nur entsetzt durch das Fenster, wieder zur Mutter und zurück durch die Scheibe. Die Zwergin wusch sich die Hände, trocknete sie ab und lief mit ungutem Gefühl
an die Tür. Inzwischen hämmerte es ungeduldig dagegen. «Ja doch!», rief die Mutter laut und öffnete die Tür. Vor ihr standen drei Zwerge in Uniform der Zwergenpolizei. «Sind Sie Frau Mutter Birke
mit den sechs Kindern und einem Vater namens Linde?», fragte einer mit so tiefer Stimme, wie sie noch nie hörte. Sie erschrak und wurde blass. «Ja …, das bin ich.» Der Sprechende sah die anderen
Zwerge neben sich an und nickte ihnen zu. Die stürmten an der Frau vorbei und in das Haus hinein. Sie liefen in jedes Zimmer hinein, durchstöberten jede Ecke, öffneten jeden Schrank, sahen unter
jedes Bett und hinter jeden Vorhang. «Wo ist der Linde?», donnerte der Sprecher mit hochroten Ohren und schiefem Mund, schlug mit der Faust auf den Küchentisch, baute sich vor der kleinen Frau
auf und blickte sie wütend an. «Ich weiß es nicht.» Es entsprach der Wahrheit. Ihr Vater war in den letzten Tagen kaum noch da, wirkte abwesend und traurig. «Wir finden ihn! Darauf können Sie
sich verlassen!», brüllte der Mann so laut, dass sich Zwergkleinchen vor ihm mehr fürchtete als vor der Kröte im Wald. Verdammt noch mal, warum bin ich nur so klein? Ich kann nicht mal meine Mama
beschützen! Die Zwepo stürmte aus dem Haus, genauso wie sie gekommen war. Sorgenvoll sah ihnen die Frau nach. Was war geschehen? Warum suchten sie Vater? Was kann ein alter Mann schon getan
haben, dass man nach ihm fahndete?
Der Tag nahm keinen guten Verlauf. Der Mutter war bange, Zwergkleinchen weinte und konnte sich kaum noch beruhigen. Niemand wusste, was geschehen war.
Die Kämpfer
Wie besprochen suchten der Meister und sein Geselle die Versammlung der Zwergenrechtler auf, die immer um die gleiche Zeit hinter dem Berg im Verborgenen stattfand.
Der Geselle stellte sich und den Alten dem Vorsitzenden vor und erklärte ihm abseits der anderen, worum es ging. Der Zwerg mit der grau-grünen Mütze kaute auf seinem Tabak herum und nahm einen
großen Schluck vom Zwergenweißer, rülpste so laut, dass der Geselle und Greis erschraken, und grinste sie mit seinen Zahnlücken an. ‹Das kann ja was werden›, dachte der Großvater, dem der erste
Eindruck von diesen Leuten hier nichts Gutes verhieß. Sie hatten kein Benehmen. Hinter dem Berg grölten die Zwergenrechtler und taten, als ob ihnen nichts widerfahren konnte. Der Geselle hatte
ihm zwar berichtet, dass sie einige Anhänger hätten, aber von der Zwepo mit Argusaugen beobachtet würden. Was sollte er tun? Es sollte Gerechtigkeit geschehen und dafür wollte er nicht aus
Feigheit oder seinen Bedenken davor zurückschrecken, sich mit diesen Zwergen zu vereinen. Als der Geselle seinen Bericht beendet hatte, sah der Vorsitzende ihn an, spuckte den Tabak neben ihnen
ins Gras, trank den letzten Schluck aus seiner Flasche und sagte: «Gut, endlich haben wir Beweise. Ist die Alte aus dem Wald bereit, auszusagen?» Großvater und der Geselle stutzten. «Ihr wusstet
also davon?», fragten sie fast zur gleichen Zeit. «Natürlich wussten wir davon, das heißt, wir hörten davon. Ihr seid nicht die Ersten, die damit zu uns kommen. Immer, wenn es darauf ankam, dass
jemand aussagen sollte, zogen sie sich zurück. Sie haben alle Angst, versteht ihr? Angst, einfach nur Angst. Uns sind die Hände gebunden. Wir brauchen Aussagen, die auch vor dem Richter Bestand
haben!» Großvater dachte nach. «Ich frage die Zwergin.» «Gut, macht das. Sagt ihr: Wenn sie nicht aussagt, wird es bis in alle Ewigkeit weiter so gehen und das wollen wir nicht. Wir warten darauf
und dann habt ihr unsere volle Unterstützung. Wir lassen niemanden im Stich.» Mit freundschaftlichem Handschlag verabschiedeten sie sich.
«So schlecht scheinen die Kerlchen gar nicht zu sein, wie es den Anschein hatte», meinte der Alte auf dem Rückweg zu seinem Vertrauten. «Nein, die sind zwar eigen
und passen nicht ins Bild des Dorfes, aber sie sind ehrlicher als manch anderer hier! Man darf sich nicht täuschen lassen von einer Hülle. Rate mal, wer mir das beigebracht hat.» Er grinste
schief und sah den Alten von der Seite an. Sie trennten sich und gingen jeder zu seinem Haus. Großvater rieb sich sein Kinn. ‹Warum haben wir so viele Vorurteile? Warum glaubte ich, diese Zwerge
da seien nicht vertrauenswürdig, nur, weil sie anders aussehen als der Großteil des Zwergendorfes? Bin ich zu alt oder zu eingefahren in meinem Denken? Sie haben wenigstens den Mumm, uns
beizustehen und vergraben sich nicht hinter einer schönen Fassade. Und ich? Ich habe es meinem Gesellen beigebracht, aber selbst nicht gelebt.› Müde legte er sich zu Bett, konnte kaum Schlaf
finden und wälzte sich die ganze Nacht unruhig hin und her. Warum beschlich ihn ein ungutes Gefühl? Er musste Gewissheit haben. Gleich morgen früh würde er die neue Freundin im Wald besuchen und
ihr alles erzählen. Ob sie für eine Aussage vor dem Richter bereit sein würde? Würde ihr überhaupt jemand Glauben schenken? Er dachte an seinen viel zu kleinen - und an den großen Enkel mit
seiner langen Nase, an alles, was seit der Verzauberung des Kleinen geschah - und an seinen lieben Sohn. «Ich werde alles tun, damit es deiner Frau und deinen Kindern gut geht. Das habe ich dir
versprochen und das mache ich auch. Hamam, Hamam, Hamam.«
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